Der Natur Rechte verleihen - von Tanja Busse
Seit 66 Millionen Jahren sind nicht so viele Tiere gleichzeitig ausgestorben wie jetzt gerade. Vor 66 Millionen Jahren war es ein Meteorit, der das Massenaussterben ausgelöst hat. Heute sind es wir Menschen. Wir töten unsere Mitlebewesen – und das, obwohl wir wissen, dass wir sie brauchen, um selbst zu überleben. Viel zu lange haben die Leute gedacht, Artenschutz sei etwas Exotisches, der Schutz der Gelbbauchunke oder der Bechsteinfledermaus, die kaum jemand von uns jemals in der Natur gesehen hat und deren Verschwinden wir entsprechend auch nicht bemerken. Also scheint es auch nicht so wichtig zu sein. Für einzelne Arten mag das stimmen: Fehlt eine Krötenart, bricht nicht gleich ein ganzes Ökosystem zusammen. Aber verschwinden zu viele Arten oder ganz besonders wichtige, dann kann genau das passieren – der Kollaps eines lebenserhaltenden Systems.
Nun haben wir jede Menge Umweltrecht auf allen Ebenen, internationale Vereinbarungen, europäische Richtlinien, das deutsche Naturschutzgesetz, doch das alles reicht nicht, um die Natur wirklich vor dem Zusammenbruch zu schützen. Die Gesetze kranken daran, dass Tiere und Pflanzen sie nicht einklagen können. Das immer noch sehr eingeschränkte Verbandsklagerecht von Natur- und Tierschutzverbänden reicht einfach nicht aus.
Was also tun? Es gibt da eine gute Idee, die absolut zeitgemäß ist, aber hierzulande noch sehr unbekannt, nämlich der Natur selbst Rechte zu verleihen. Damit sie vor Gericht selbst ihr Überleben einklagen kann. Das klingt komisch? Der Hambacher Forst im Gerichtssaal? Der Biber als Kläger?
Vor 2 000 Jahren wäre es den Römern seltsam erschienen, wenn ihnen jemand gesagt hätte, dass ihre Sklaven Rechte bekommen sollten. Und die Bürger des Deutschen Reiches fanden es noch vor 120 Jahren völlig normal, den Menschen in ihren afrikanischen Kolonien alle Rechte zu entziehen. Auch Frauenrechte schienen Männern lange komisch zu sein, als Frauen sie einforderten. Kurz: Die Vorstellung darüber, wer Rechte besitzt, hat sich im Laufe der Geschichte kontinuierlich erweitert. Nun entdecken Biolog*innen beinahe täglich neue Eigenschaften an Tieren, die zeigen, wie ähnlich sie uns sind, dass sie Schmerz empfinden, kommunizieren, lernen und sogar eigene Kulturen entwickeln. Wo bitte also wäre die wissenschaftliche Grundlage, sie weiter als Sachen zu behandeln, als Objekte?
Aber so ist die Gesetzeslage heute: Menschen und juristische Personen, etwa Unternehmen, sind Rechtssubjekte – aber Pflanzen, Tiere, Flüsse und Ökosysteme sind nur Objekte. Über sie wird entschieden, aber eigene Rechte haben sie nicht. Es wird Zeit, dass sich das endlich ändert!
Sie sind noch skeptisch? Weil die Natur ja gar nicht sprechen kann? Das können juristische Personen auch nicht. Unternehmen beauftragen Anwälte, die sie vor Gericht vertreten. So wären es bei den Rechten der Natur kundige menschliche Stewards, die sie vertreten.
Ecuador hat das schon geschafft. Es ist das erste Land der Erde, dessen Verfassung die Natur zum Rechtssubjekt erhoben hat. Seit 2008 garantiert die neue Verfassung der Natur das Recht zu existieren. Damit war natürlich nicht jede Umweltzerstörung gestoppt – aber einen großen Erfolg gab es schon: 2021 untersagte das Verfassungsgericht ein geplantes Bergbauprojekt im Regenwald Los Cedros. In Deutschland setzen sich Jurist*innen und Nachhaltigkeitsexpert*innen für die Rechte der Natur ein. Fragte man die Passagiere der Arche des Geschmacks von Slow Food, sie wären sofort dafür!
erschienen im Slow Food Magazin 05/2023
Tanja Busse ist Journalistin, Moderatorin und Autorin mehrerer Bücher.
Gemeinsam mit Frank Adloff hat sie im campus-Verlag den Titel »Welche Rechte braucht die Natur? Wege aus dem Artensterben« herausgegeben. Sie ist Slow-Food-Mitglied und im Kuratorium des Ursula Hudson Preises.