Die Zukunft, die wir wählen - von Carla Ulrich
Im Juni wurde ein neues Europäisches Parlament gewählt. Die Abgeordneten können weitreichende Entscheidungen treffen. Sie bestimmen, ob Landwirt*innen von Agrarsubventionen profitieren, welche Umweltstandards gelten und wer in Europa legal arbeiten darf. Was in Brüssel und Straßburg ausgehandelt wird, prägt das Bild der Landschaften, das Zusammenleben in den Städten und das Geschehen an den Außengrenzen.
Der Sommer 2024 ist sicherlich kein einfacher Zeitpunkt für das Bekleiden eines politischen Amtes. Im Zeitalter der sogenannten Polykrisen konkurrieren die Notlagen um immer knappere Budgets. Auch meine Generation weiß nicht, worüber sie sich am meisten Sorgen machen soll: Klimakrise? Krieg an Europas Grenzen? Inflation? Steigender Rechtsextremismus? Oder doch die Lücke in der Rentenkasse? In diesem Ringen um Aufmerksamkeit und Subventionen liegt Mutter Natur klar im Nachteil. Ihr steht kein Anwalt zur Seite, nur einige besorgte Wissenschaftler*innen. Ihr pathologischer Zustand ist kaum greifbar, man spricht von Temperaturanstiegen in Dezimalzahlen, von Veränderungen des Meeresspiegels in Zentimetern. Und dann ist da noch die Sache mit den Kosten: Klimaschutz kostet viel Geld, während sich der Nutzen erst nach Jahr(zehnt)en erkennen lässt.
Doch grüne Politik darf nicht der Sündenbock für die steigende Komplexität der Wirklichkeit und des Regierens werden. Wenn Politiker*innen – oft aus dem rechtsextremen Spektrum – Stimmung gegen Umweltschutz machen und ihn als Wohlstandsgefährdung diskreditieren, werden sie ihrer Verantwortung nicht gerecht. Überflutungen, Dürren und Waldbrände kosten nicht nur Menschen- und Tierleben. Sie können den Wohlstand wortwörtlich den Bach runtergehen lassen. Naturkatastrophen, die durch den menschengemachten Klimawandel verstärkt werden, finden schon jetzt statt – in Passau, im Ahrtal und in Norddeutschland.
Auch in der Landwirtschaft steht viel Arbeit an. Bis 2030 sollen mindestens 25 Prozent der Agrarflächen ökologisch bewirtschaftet werden. Doch bisher ist die EU von diesem Ziel weit entfernt. Überall in Europa werden Landwirt*innen älter, geben ihre Betriebe auf oder haben keine gesicherte Hofnachfolge. Hohe Investitionskosten, zunehmende Wetterextreme und harter Preisdruck durch den globalen Wettbewerb – wer will heute noch Landwirt* in werden? Dabei begegne ich bei meiner Arbeit in der Tiny Farms Academy vielen Menschen, die vom eigenen Betrieb träumen. Es mangelt nicht an Interesse. Es mangelt an Perspektiven. In der Lebensmittelerzeugung diktieren einige wenige Großhandelsunternehmen die Preise. Sie nehmen in Kauf, dass Mensch und Natur dafür ausgebeutet werden. Das hat zur Folge, dass vor allem Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus in Europa teils unter katastrophalen Bedingungen arbeiten müssen – damit Erdbeeren, Tomaten und Gurken für einen kleinen Preis in deutschen Supermärkten liegen. In den Regalen stehen diese im direkten Wettbewerb mit den Erzeugnissen regionaler Produzent*innen, die sich an den deutschen Mindestlohn halten.
Das neu gewählte Parlament hat es in der Hand, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz zu fördern. Und wir auch, denn die nächsten Wahlen in Deutschland stehen gleich vor der Tür. Auf die Landtagswahlen, die im Herbst in einigen Bundesländern stattfinden, folgt 2025 die Bundestagswahl. Die Ergebnisse der Europawahl laden uns zur Selbstreflektion ein. Was zieht die Menschen in die politischen Extreme? Wie können wir den ökonomischen und existenziellen Nutzen des Klimaschutzes deutlich machen? Und was steht einer sozialverträglichen und effektiven Klimapolitik im Wege? Wenn wir diese Fragen beantworten können, hat die Europäische Union eine gute Chance, ihre Note beim Klimaschutz künftig zu verbessern.
von Carla Ulrich, Mitglied des Leitungsteams von Slow Food Youth Deutschland
erschienen im Slow Food Magazin 04/2024