Pestizide ade: Es geht um unsere Zukunft! - von Marta Messa
Pestizide sind überall. Das ist keine Panikmache, sondern eine Tatsache. Die Europäische Umweltagentur berichtete, dass 83 Prozent der landwirtschaftlichen Böden, die 2019 untersucht wurden, Pestizidrückstände enthielten. Dass 2020 in mehr als einem Fünftel der europäischen Flüsse und Seen Pestizidgrenzwerte überschritten wurden. Und dass 84 Prozent derjenigen, die 2021 in fünf europäischen Ländern darauf untersucht wurden, mindestens zwei Pestizide in ihrem Blut hatten.
Wir sind umgeben von einer Flut entmutigender Nachrichten über den Zustand der Welt. Es kann manchmal erdrückend sein, sich mit den Herausforderungen auseinanderzusetzen, denen wir als Einzelne und als globale Gemeinschaft gegenüberste-hen. Aber die Lösungen sind da und können mit dem gemeinsamen Engagement aller erreicht werden.
Als die Europäische Kommission im Jahr 2020 die »Farm to Fork«-Strategie mit dem Ziel veröffentlichte, den Einsatz von chemischen Pestiziden (neben anderem) um 50 Prozent zu reduzieren, gab es sofort Gegenwind. Die Strategie wurde wiederholt von Indus-trielobbyist*innen, konservativen Politiker*innen und Agrarunternehmen angegriffen, die Kritik durch die Veröffentlichung zweier umstrittener Studien weiter angeheizt (wobei eine dieser Studien von der Pestizidindustrie gesponsert war).
Der Krieg in der Ukraine und die Diskussion um die Ernährungssicherheit hat die Forderungen nach einem Verzicht auf die Pestizidreduktion weiter befeuert. Um die Nahrungsmittelproduktion zu steigern, erlaubten sofortige Ausnahmeregelungen den Einsatz von Pestiziden auf eigentlich geschützten Flächen. Das aber führt letztlich zu einem Verlust an biologischer Vielfalt und einem höheren Risiko der Ernährungsunsicherheit auf lange Sicht. Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine neue Pestizidverordnung, der 2022 veröffentlicht wurde, stieß bei konservativen
Politiker*innen, die vorgeben, die Interessen der Landwirtinnen und Landwirte zu vertreten, erneut auf Widerstand. Aber welche Zukunft kann die Landwirtschaft haben, wenn wir die Natur – unsere Lebensgrundlage – bis zum Punkt ohne Wiederkehr zerstören?
Slow Food hat sich zum Ziel gesetzt, den Übergang zu guten, sauberen und fairen Lebensmitteln für alle zu unterstützen. Was in Schulgärten, den Küchen der Slow-Food- Köch*innen, auf den Feldern der Slow-Food-Höfe und in lokalen Slow-Food-Gruppen geschieht, ist eine kontinuierliche Förderung agrarökologischer Praktiken: Sie fördern die Vielfalt der lokalen Lebensmittel, nähren den bewirtschafteten Boden, respektieren die Tiere, schätzen die Menschen in der Landwirtschaft, Fischerei und im Lebensmittelhandwerk, unsere Gesundheit und die des Planeten. Immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass diversifizierte agrarökologische Lebensmittelsysteme, die in erster Linie die Menschen vor Ort ernähren und lokales Wirtschaften fördern, die Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit sind.
Auf EU-Ebene wehren wir uns als Slow Food gegen diejenigen, die jede Art von Bestreben nach mehr Nachhaltigkeit blockieren. Bald wird das Europäische Parlament über den Gesetzesvorschlag der Kommission zu Pestiziden diskutieren. Die Abstimmung darüber wird im Frühherbst erwartet. Später wird der Vorschlag von den nationalen Fachminis-ter*innen im Ministerrat erörtert. Diese Debatten mögen sich weit weg anfühlen – aber es geht um unsere Zukunft, die jetzt gestaltet wird und bei der wir mitreden wollen und müssen. Um allen eine Stimme zu geben und Druck auf die Entscheidungsträger*innen auszuüben, hat Slow Food die Kampagne »Pestizide ade!« ins Leben gerufen. Online können alle Europäer*innen ganz einfach personalisierte E-Mails an die Mitglieder des Europäischen Parlaments und die nationalen Minister*innen senden, um sie daran zu erinnern, dass wir ohne eine Reduzierung des Pestizideinsatzes keine sichere Zukunft haben.
Wir müssen all jenen die Hand reichen, die aus dem Modell der industriellen Landwirtschaft aussteigen wollen, diejenigen unterstützen, die bei agrarökologischen Praktiken führend sind, und sicherstellen, dass politische Entscheidungen nicht durch Unternehmensinteressen und kurzfristiges Wahlkalkül getrübt werden. Wir müssen handeln, und zwar jetzt. Pestizide ade: Es geht um unsere Zukunft! »Die Lösungen sind da und können mit genügend Engagement erreicht werden.«
von Marta Messa, Generalsekretärin von Slow Food International mit Sitz in Brüssel
erschienen im Slow Food Magazin 05/2023