Zukunftsfähige Städte brauchen gute Beziehungen zum Land - von Dr. Iris Schöninger

06.12.2024 - Als ich als junge Studentin aus meinem Schwarzwalddorf in die Großstadt zog, hörte ich immer wieder abfällige Sprüche wie »Du kommst ja wohl aus der Provinz«, vor allem, weil ich kein lupenreines Hochdeutsch sprach. Auch heute noch gilt das Land bei vielen als rückständig bis hin zu geistig eingeschränkt. Dabei werden dort unsere Nahrungsmittel angebaut – auch für die städtische Bevölkerung.

Immer mehr Menschen wohnen in Städten: In Deutschland sind es 78 Prozent der Bevölkerung, weltweit 57 Prozent – Tendenz steigend. Das Einkommen eines Großteils der (groß-)städtischen Bevölkerung ist deutlich höher als auf dem Land. Vor allem gut ausgebildete junge Menschen leben in Metropolregionen, während viele ländliche Regionen immer stärker überaltern. Lebenswelten und Konsummuster, Mentalitäten und Werte driften so weiter auseinander.

Auf der Strecke zu bleiben droht dabei unsere jahrhundertealte Esskultur. Wissen wir noch, welche Wildkräuter essbar sind? Welches Gemüse und Obst gerade Saison hat? Wie man kocht und mit Resten ein günstiges und köstliches Gericht zubereitet? Die Ernährungsindustrie suggeriert uns, dass es für alles gute und billige Lösungen gibt: angefangen bei industrieller Massentierhaltung bis hin zu extrem verarbeiteten Fertiggerichten aus dem Discounter. Kostbare Lebenszeit sollte ihres Erachtens für wichtigere Dinge verwendet werden – eine Idee, die ankommt. Ist es nicht aberwitzig, dass für das Auto kein Motoröl zu teuer ist, beim Essen aber gespart wird und deshalb häufig minderwertige und ungesunde Lebensmittel auf dem Teller landen? Standpunkt Iris Schöninger.png

In der Tat sollten wir uns dringend um eine Verbesserung der Stadt-Land-Beziehungen kümmern, denn in einer Zeit voller Krisen führt daran kein Weg vorbei. Die Re-Regionalisierung ist eine der zentralen Herausforderungen für eine Ernährungswende: Sie hilft uns bei der Anpassung an die Klimakrise und stärkt die Widerstandsfähigkeit großräumiger Städte und Regionen bei der Lebensmittelversorgung. Auch können wir eher mitbestimmen, was und wie wir essen wollen. Globaler Handel findet weiterhin statt, aber nur bei Lebensmitteln, die lokal und regional nicht produziert werden können.

Also ran ans Thema Ess- und Agrarkultur! Wieder zurück auf dem Land sehe ich, dass es sich lohnt, mit einem Nutzgarten zu experimentieren, notfalls geht das auch auf dem Balkon oder dem Fenstersims. Beim Einkauf auf Märkten und direkt auf dem Hof statt im Supermarkt lässt sich viel Neues entdecken und es ist eine gute Möglichkeit, um mit Erzeuger*innen zu reden und zu verstehen, wo Gemüse, Obst und Käse wachsen. Wertschätzung und Verantwortung steigern sich mit dem Wissen über Lebensmittel. Das muss sich am Ende auch in fairen Löhnen niederschlagen.

Die Zukunft der Städte liegt in einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Land. Es ist höchste Zeit, dass wir Politik und Wirtschaft in die Verantwortung nehmen. Damit junge und auch ältere Menschen nicht notgedrungen in die Stadt ziehen, muss die öffentliche Daseinsvorsorge auf dem Land wieder ausgebaut werden, Artikel 72 des Grundgesetzes garantiert die »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet«. Junge Landwirte und Landwirtinnen brauchen Zugang zu bezahlbarem Ackerland: Ein entsprechendes Agrarstrukturgesetz kann verhindern, dass kostbarer Boden weiterhin in die Hände landwirtschaftsfremder Finanzinvestoren fällt. Ökologisch wirtschaftende Höfe müssen prioritär gefördert werden statt Agrarfabriken, die für den Weltmarkt produzieren.

Neue, innovative Beziehungen zwischen Stadt und Land können neue Wertschöpfungsnetze schaffen und so auch die Wirtschaftskraft in ländlichen Regionen stärken. Städte profitieren davon, wenn sie mehr Vielfalt auf Acker und Teller, Kulturlandschaften statt ausgeräumter Felder mit Monokulturen und vor allem gutes, sauberes und fair produziertes Essen dafür bekommen.

von Dr. Iris Schöninger, Leiterin der Qualitätskommission von Slow Food Deutschland

erschienen im Slow Food Magazin 06/2024

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