Die neuen Ernährungsempfehlungen der DGE: zwei Schritte vor, einer zurück

03.04.2024 - Seit 1956 formuliert die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) Regeln zur Ernährung. Diese werden auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse in regelmäßigen Abständen neu angepasst. Verbraucher*innen sollen mit ‚10 Regeln‘ einfache Maßgaben für eine gesundheitsfördernde Ernährung an die Hand gegeben werden. Anlässlich des Weltgesundheitstags am 7. April hat sich Lotte Rose näher mit den inhaltlichen Änderungen und der Frage auseinandergesetzt, ob die Regeln taugen. Während Nachhaltigkeit als Leitlinie angepriesen wird, werden die eigentlichen Zusammenhänge zwischen Menschen- und Planetengesundheit nicht erklärt.

Gemüse_Messe-2016_(c) HolgerRiegel.jpgAnfang März dieses Jahres hat die DGE neu überarbeitete Richtlinien veröffentlicht. Statt „Vollwertig essen und trinken“ heißt der Titel jetzt „Gut essen und trinken“. Hat sich mit dem Titel auch inhaltlich etwas verändert?

Bereits für die letzte Fassung der DGE Ernährungsempfehlungen war kennzeichnend, dass hier erstmalig Aspekte der Nachhaltigkeit für die Bestimmung von nutritiven Leitlinien relevant gemacht wurden (Jungvogel 2013, 645). Dies hat sich in der neuen Fassung noch einmal verstärkt. In den Begleittexten zur öffentlichen Bekanntmachung der neuen 10 Regeln spielt jedenfalls der Verweis auf die Nachhaltigkeit als Bezugspunkt der Leitlinien eine überaus prominente Rolle.

Nachhaltigkeit wird als neue Leitlinie angepriesen

In einer Pressemeldung wird als Leitmotto der Empfehlungen ausgegeben: „Bunt und gesund essen und dabei die Umwelt schonen“. Ausgeführt wird dazu: „Neu an diesem Modell ist, dass es neben der Empfehlung zu einer gesunden Ernährung gleichzeitig auch Aspekte wie Nachhaltigkeit, Umweltbelastung sowie die in Deutschland üblichen Verzehrgewohnheiten berücksichtigt.“ (Presseinformation: Gut essen und trinken 2024). An anderer Stelle heißt es: „Die DGE-Empfehlungen zeigen einen Weg, den Verzehr von pflanzlichen Lebensmitteln zu steigern und den von tierischen Lebensmitteln zu senken, um Gesundheit und Umwelt zu schützen.“ Oder es wird behauptet: Wer sich beim Essen nach den 10 Regeln richtet, „schützt nicht nur seine Gesundheit, sondern schont dabei die Ressourcen der Erde“, und es hilft zudem, „Lebensmittelabfälle zu reduzieren“ (Gut essen und trinken o. J.). Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Verweis auf die stärkere Pflanzenbasierung der Ernährung nach der Regelüberarbeitung, weil dies die Umwelt schont (Presseinformation: Gut essen und trinken 2024), was durchaus positiv zu werten ist.

Mit dieser deutlichen Akzentuierung der Nachhaltigkeitsaspekte im Kontext der Ernährungsempfehlungen für die Bevölkerung erfüllt die DGE Zielsetzungen des Koalitionsvertrags der Bundesregierung von 2021. Hier wurden nicht nur die „nachhaltige Landwirtschaft“ (34), die Erhöhung des Anteils „regionaler und ökologischer Erzeugnisse“ und die Reduzierung der „Lebensmittelverschwendung“ als Ziele der Agrarpolitik festgeschrieben (Mehr Fortschritt wagen, 2021, S. 34ff), sondern auch explizit angekündigt: „Wir werden die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung aktualisieren“ (36).

Dass dies nun geschehen ist, kann Slow Food Deutschland erfreuen. Schließlich scheint damit ein zentrales Anliegen des Vereins – die Sicherung guten, sauberen und fairen Essens – aus den Randzonen der Gesellschaft in die Mitte zu rücken. Es wird normaler und selbstverständlicher, Fragen der Ernährung nicht mehr auf physiologische Inhaltsstoffe von Lebensmitteln und die menschliche Gesundheit zu reduzieren, sondern sie als Teil ökologischen Überlebens des Planeten zu begreifen. Dies ist ein wichtiger Schritt nach vorn in Richtung Ernährungswende.

Doch wie genau schlägt sich die neue ökologische Orientierung im aktualisierten Regelwerk nieder?

Ein vergleichender Blick auf die alten und neuen ‚Faustregeln‘ fördert dazu Folgendes zu Tage: Der Verzehr von Hülsenfrüchten und Nüssen wird zu einer eigenen Regel neu erhoben. In der alten Fassung waren diese Lebensmittel gar nicht erwähnt. Diese Bedeutungsaufwertung der Hülsenfrüchte und Nüsse steht ganz im Einklang mit den Maßgaben der „Planetary Health Diet“. In diesem 2019 veröffentlichten Speiseplan für die Weltbevölkerung, der modellhaft einen Ernährungsplan berechnete, der Gesundheit von Mensch und Planet gleichermaßen schützen kann, kommt den Hülsenfrüchten eine wichtige Funktion bei der täglichen Kalorienzufuhr zu. Das gleiche gilt für Nüsse.

Des Weiteren wird die Reduzierung von Fleisch propagiert. 300g pro Woche wird als Maßgabe ausgegeben. Dies liegt deutlich niedriger als in der alten Fassung, die noch von 300 – 600 g Fleisch pro Woche sprach, und nähert sich der Dosierung der „Planetary Health Diet“, die die wöchentliche Grammzahl aber etwa 50 g niedriger ansetzt. Tierethische Argumente zur Reduzierung des Fleischkonsums – oder auch allgemeiner der Lebensmittel tierischen Ursprungs – tauchen übrigens gar nicht auf.

Ganz verschwunden sind die tierischen Fette. Genannt werden jetzt nur noch pflanzliche Öle und Fette als gut für den menschlichen Verzehr. Dies spiegelt den Werteaufschwung der Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs wider, wirft aber die kritische Frage auf, wo die tierischen Fette denn verbleiben, wenn doch gleichzeitig Lebensmittelverschwendung reduziert werden soll.

Auf der Linie der „Planetary Health Diet“ bewegt sich die DGE auch, wenn sie ein bis zwei Portionen Fisch pro Woche weiterhin empfiehlt – eine Empfehlung, die jedoch angesichts des Wissens um die Überfischung der Meere erstaunen muss.

Bei weiteren Empfehlungen gibt es keinerlei Veränderungen. An den täglichen fünf Portionen Obst und Gemüse wird festgehalten, auch an der Bedeutung der Getreideprodukte. Kartoffeln werden als Kohlehydratlieferanten gar nicht mehr genannt. Nach wie vor empfiehlt die DGE, viel zu trinken. Deutlicher wird Wasser aber als optimales Getränk hervorgehoben. Auch der Hinweis auf körperliche Aktivitäten zur Gesundheitsförderung findet sich in der Überarbeitung wieder.

Unverändert in beiden Fassungen ist zudem der Hinweis, auf die gute soziale Rahmung des Essens zu achten, sich Zeit zu nehmen und zu genießen. Neu ist in diesem Zusammenhang aber das offensive Bemühen, die Bedeutsamkeit des Essens als soziales Ereignis zu vermitteln: „Gemeinsam essen tut gut.“

Gehört selbst Kochen jetzt der Vergangenheit an?

Verschwunden ist schließlich die ehemalige eigene Regel zum Kochen. Während in der alten Fassung die schonende Zubereitung nahegelegt wurde, fehlen Küchenempfehlungen in der neuen Fassung völlig – ein Indiz dafür, dass man von der Bevölkerung nicht mehr erwartet, dass sie kocht?

Argumentationslinie der DGE verfolgt weiterhin das Mantra der Menschengesundheit : die Zusammenhänge zur Planetengesundheit werden kaum erklärt

Beim Textduktus fällt auf, dass ernährungsmedizinische Aufklärungen und Begründungen von Verzehrempfehlungen im Vergleich zu früheren Fassungen nachlassen, dennoch weiterhin am stärksten sind. An diversen Stellen werden Verzehrempfehlungen mit Gesundheitsvorteilen oder -nachteilen plausibilisiert. Nur einmal findet sich eine explizite ökologische Argumentationsfigur, wenn es heißt, dass die Erzeugung von Fleisch erheblich mehr Umweltbelastungen mit sich bringt als die Erzeugung von Pflanzen. Ein weiterer immanenter ökologischer Verweis steckt in der Empfehlung, Obst und Gemüse der Saison zu verzehren.

Damit gelingt es dem neuen Regelwerk der DGE nicht, ökologische Fragen als Kriterien menschlicher Ernährung im öffentlichen Bewusstsein stark zu machen. Vielmehr sorgen die Regeln wie eh und je dafür, bei Verbraucher*innen das Bild zu festigen, das eigene Essen vor allem unter der Devise persönlicher Gesundheitsoptimierung zu sehen. Die neuen „10 Regeln“ adressieren die Bevölkerung weiterhin in erster Linie in neoliberaler Manier in ihrer Verantwortlichkeit für das eigene individuelle Wohlergehen. Dass ihre Essensentscheidungen jedoch nicht allein mit ihrer eigenen Gesundheit, sondern auch mit der Gesundheit des Planeten etwas zu tun haben, diese aufklärerische Botschaft bleibt blass.

Die DGE profiliert sich zwar fortschrittlich mit dem Anspruch, dass Ernährung sich ändern muss, wenn Gesundheit und Umweltschutz gefördert werden sollen, ihr neues Regelwerk ist dann aber höchst halbherzig. Zwar findet die stärkere Pflanzenorientierung ihren Niederschlag, aber mehr findet sich eben auch nicht. Aspekte einer ökologischen Ernährung werden nicht weiter ausbuchstabiert.

Jenseits von Dosierung der Lebensmittel: Auf das Produktionssystem kommt es an

Dass die Frage der Produktionsweisen von Lebensmitteln der Dreh- und Angelpunkt einer umweltverträglichen Ernährung ist, bleibt außen vor. Dies hätte bedeutet, sehr viel klarer die Herkunft von Lebensmitteln zu einem Qualitätskriterium der menschlichen Ernährung zu erklären, statt immer nur über die Dosierung von einzelnen Lebensmitteln – den Endprodukten – zu sprechen. Die Empfehlung, Obst und Gemüse vermehrt zu essen, mag vordergründig ökologisch zuträglich sein – aber eben nur vordergründig. Ob Obst und Gemüse tatsächlich der Umwelt gut tut, hängt schließlich davon ab, wie es erzeugt wurde. Von daher enttäuscht es, wenn die neu aufgelegten Ernährungslagen hier keine deutlichere Sprache gewagt haben. Wenn die DGE eine Bevölkerungsernährung kultivieren will, die die Umwelt schont, wie sie behauptet, hätte sie die ökologischen Bezugspunkte der menschlichen Ernährungsweise sehr viel klarer markieren müssen.

Auch für Slow Food ist die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt ein wichtiges Anliegen. Doch anders als die DGE radikalisiert Slow Food die existentielle Verbindung von beidem. Geleitet vom One-Health-Konzept, das Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt als engen Wechselwirkungszusammenhang begreift, hat Slow Food International 2022 das Positionspapier "Unsere Nahrung, unsere Gesundheit. Biologische Vielfalt schützen heißt Mensch und Planeten heilen" veröffentlicht. Gesund ist danach nur eine Ernährung, die gut für die Gesundheit der Menschen und gleichzeitig für die Gesundheit des Planeten ist. Empfohlen werden deshalb eine breite Sortenvielfalt an Lebensmitteln pflanzlichen Ursprungs und möglichst gering verarbeitete Lebensmittel, die regional und lokal mit ökologisch nachhaltigen Methoden erzeugt werden und die Veränderung von Ernährungsumgebungen, in denen nach wie vor ungesunde Lebensmittel leichter verfügbar, günstiger und damit attraktiver sind als nachhaltig erzeugte, gesunde Lebensmittel.

Auch Slow Food Deutschland hat sich 2020 zur Gesundheitsfrage des Essens öffentlich positioniert mit der Stellungnahme „Menschengesundheit nur mit Planetengesundheit“. Für Slow Food ist gesundes Essen undenkbar ohne einen gesunden Planeten. Essen kann nicht gesund sein, wenn es nicht dazu beiträgt, Böden, Wasser und Umwelt gesund zu halten, Artenvielfalt zu bewahren, Tierwohl zu schützen und globale Nahrungssicherheit und -gerechtigkeit zu schaffen. Das Papier prangert genau das an, was in den Richtlinien der DGE wieder reproduziert wurde: „Gebannt schauen wir auf die Inhaltsstoffe des Essens, die Produktqualität. Der lange Weg der Herstellung – die Prozessqualität – bleibt unbeachtet. Aber wie kann ein Lebensmittel gesund sein, das scheinbar gute Inhaltsstoffe bietet, dessen Herstellung aber Böden und Artenvielfalt zerstört, Wasser und Energie vergeudet, Tiere quält, Produzent*innen in Armut leben lässt und Hungersnöte verursacht? Gesundheit auf Kosten anderer ist ungesund. Dieser Widerspruch erfordert ein radikales Neu-Denken des Gesundheitsbegriffs.“

Nachfolgend werden ‚10 Regeln‘ für die menschliche Ernährung formuliert. Manche ähneln denen der DGE – z.B. bei der Reduktion der tierischen Lebensmittel, der Erhöhung der pflanzenbasierten Lebensmittel und dem Plädoyer für gemeinsames Essen. Aber viele sind auch anders. Denn sie sollen die Verbraucher*innen genau nicht mehr um sich selbst kreisen lassen, sondern dafür sensibilisieren, dass sie als Essende Teil komplexer Produktionsverhältnisse sind, die anders werden müssen, wenn sie gesund in einer gesunden Welt leben wollen. Dafür gibt Slow Food eine Reihe von Orientierungen an die Hand – für die Haushaltsführung, die Speiseplangestaltung, den Einkauf, die Mahlzeit, aber auch für das kritische Nachdenken über die moderne Essenswelt, Agrarpolitik und Verführungskünste des Essensmarktes.

Autorin: Lotte Rose, Bildungskommission Slow Food Deutschland.

Quellen:

Antje Jungvogel, Isabelle Wendt, Klaus Schäbethal, Eva Leschik-Bonnet, Helmut Oberritter: Überarbeitet: Die 10 Regeln der DGE. In: Ernährungs Umschau | 11/2013, 644- 645

Mehr Fortschritt wagen, Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/die Grünen und den Freien Demokraten (FDP). 2021

Presseinformation: Gut essen und trinken – DGE stellt neue lebensmittelbezogene Ernährungsempfehlungen für Deutschland vor. 2024 https://www.dge.de/presse/meldungen/2024/gut-essen-und-trinken-dge-stellt-neue-lebensmittelbezogene-ernaehrungsempfehlungen-fuer-deutschland-vor/

Gut essen und trinken – die DGE-Empfehlungen o. J. https://www.dge.de/gesunde-ernaehrung/gut-essen-und-trinken/dge-empfehlungen/

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