Audiofeature "Rot wie Blut: Der bittere Beigeschmack italienischer Tomaten"
In sechs Kapiteln beleuchtet das Audio-Feature die Situation auf den italienischen Tomatenfeldern, die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der meist migrantischen Erntehelfer*innen, die Rolle der italienischen Agrarmafia und die Verantwortung der großen Supermarktketten. Zugleich zeigt es auf, wie engagierte Menschen gegen das Caporalato-Phänomen kämpfen und wie Verbraucher*innen durch Ihre Einkaufsentscheidungen einen Beitrag zur Verbesserung der Situation auf den italienischen Feldern leisten können.
Zu hören auf:
Zur Geschichte des Features:
Alles begann im Herbst 2019. Gemeinsam mit dem Anti-Mafia-Verein Libera realisierte Slow Food Youth Italien ein 5-tägiges Sommercamp zu organisiertem Verbrechen in der Landwirtschaft. Während des Camps lernten die Teilnehmenden über die systematische Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte mittels Vorarbeiter*innen, sogenannter Caporali, und den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Erntehelfer*innen. Sie lernten von einem System, in dem große Supermarktketten mittels fragwürdiger Praktiken ihre Macht im Markt etablieren, und Landwirt*innen gezwungen werden, ihre Produkte für schreckhaft niedrige Preise zu verkaufen. Und sie erfuhren über korrupte Wertschöpfungsketten, entlang denen die Agrarmafia großes Interesse hat, Kontrolle auszuüben, aber auch von mutigen Landwirt*innen und Arbeiter*innen, die sich diesem System täglich wehren und für eine transparente, gewaltfreie Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie kämpfen.
Im Laufe des Camps entstand unter den Teilnehmenden die Idee, das Gelernte in einer Kampagne aufzubereiten und damit ein breiteres Publikum für die Problematik zu sensibilisieren. Da Tomaten-Passata in italienischen Haushalten fast täglich konsumiert wird, sollte die Tomate den Rahmen der Kampagne bilden. Ein gutes halbes Jahr später – Im April 2020 – startete die Social-Media-Kampagne #dietacaporalatofree und wurde tausendfach geteilt. Ziel der Kampagne war es, jungen Menschen durch Infografiken, Bilder und Video-Interviews mit Expert*innen Mittel zu geben, die Rolle der verschiedenen Akteur*innen entlang der Wertschöpfungskette zu verstehen, um in Zukunft eine gewaltfreie, transparente Landwirtschaft zu unterstützen.
Anna, Aktivistin bei Slow Food Youth Leipzig, hatte die Möglichkeit an dem Camp in Italien teilzunehmen und wurde Teil der italienischen Kampagnen-AG. Beim Slow-Food-Youth-Deutschland-Netzwerktreffen im November 2019 berichtete sie von dem Erlebten. Noch an diesem Wochenende gründete sich eine neue AG, die auch in Deutschland für das Thema sensibilisieren wollte. Die Idee des Audio-Formats entstand im selben Moment. Denn es versprach, den komplexen Sachverhalt leicht verständlich aufzubereiten und damit für viele Menschen zugänglich zu machen.
In den kommenden Wochen und Monaten verbrachte die AG viel Zeit mit Recherchen und Videokonferenzen, denn die AG-Mitglieder waren verstreut in der ganzen Bundesrepublik. Ursprünglich war für den Sommer eine Reise nach Italien geplant. Gemeinsam wollte die AG sich auf den Weg in den Süden machen, um bei der Tomatenernte zu helfen und vor Ort Interviews zu führen. Wie so vieles wurden auch die Pläne der AG von der Corona-Pandemie durchkreuzt. Also machten sich die Slow-Food-Youth-Aktivist*innen auf eine digitale Reise, um über den bitteren Beigeschmack der italienischen Tomatenproduktion zu erfahren.
Bei den Recherchen kristallisierte sich rasch ein kompliziertes, dennoch eindeutiges Bild heraus: das eines machtvollen Spiels, welches sich täglich entlang vieler italienischen Wertschöpfungsketten abspielt. Die AG setzte sich zum Ziel, im Feature die Rolle der verschiedenen Akteur*innen zu beleuchten. Hierfür führte sie Interviews mit sieben internationalen Experten: dem europäischen Ethnologen Gilles Reckinger, dem Investigativjournalisten Stefano Liberti, Davide Mattiello, Präsident der Stiftung “Benvenuti in Italia“, dem apulianischen Gewerkschafter Raffaele Falcone, Johannes Schorling, Mitglied im Steuerungskreis der Initiative Lieferkettengesetz sowie einem Mitarbeiter des Fair-Handelszentrums Rheinland.
Bei der Produktion des Features lag der Fokus darauf, deutsche Endverbraucher*innen über die systematische Ausbeutung von Erntehelfer*innen zu informieren, ihnen Mittel an die Hand zu geben, um bewusste Konsumentscheidungen treffen zu können, ihnen jedoch gleichzeitig nicht die alleinige Verantwortung zuzuschreiben. Denn: Die systematische Ausbeutung von Arbeitskräften und das organisierte Verbrechen in der Landwirtschaft bleiben weiterhin ein enormes Problem, welchem nur durch einen grundlegenden politischen und kulturellen Wandel – in Italien und der EU – ein Ende gesetzt werden kann.
Die intensiven Recherchetätigkeiten wurden gefolgt von Übersetzungsarbeiten, der Auswahl passender Interviewpassagen, und dem Verfassen seitenweiser Texte, um die Interviews miteinander zu verknüpfen und sie in den inhaltlichen Kontext einzubetten. Dann begann die Kreativarbeit. Denn Ziel war es, das schwere, ja bedrückende Thema so aufzubereiten, dass es eine möglichst breite Zuhörerschaft anspricht und diese ergreift. Eine zentrale Herausforderung war es hierbei, einen zum Inhalt passenden Ton sowie geeignete Klänge zu finden. Da die Interviews digital geführt werden mussten, hatte das Auswirkungen auf die Tonqualität der Aufnahmen und es konnten nicht, wie ursprünglich geplant, umfangreiche akustische Atmosphären vor Ort eingefangen werden. Durch viel Kreativität und das Zurückgreifen auf bestehendes Material ist dennoch ein inhaltlich dichtes Feature mit vielen unterschiedlichen Perspektiven, entstanden, begleitet von Tönen und Klängen, die das Feature hoffentlich zu einem Hörerlebnis machen.
Über ein Jahr intensive Recherchen, viele Telefonkonferenzen, lange Abende und kurze Nächte sowie ein Dutzend helfende Hände ermöglichten die Realisierung dieses Projektes – das erste Audio-Feature von Slow Food Youth Deutschland.
Wir wünschen viel Spaß beim Hören!
Ein Feature von Slow Food Youth Deutschland
Redaktion: Lotta De Carlo, Anna Marie Straub
Sprecherinnen: Anna-Lea Weiand, Katrin Mattila, Manon Lacoste, Marlene Meissner
Interviewpartner: Raffaele Falcone, Stefano Liberti, Davide Mattiello, Gilles Reckinger, Johannes Schorling
Mit Unterstützung von: Thomas Beutler, Marlene Boll, Sabina De Carlo, Anna Julia Messerschmidt und Patrizia Monti
Schnitt und Musik: Anna-Lea Weiand
Aquarellbilder: Girogia Giudice, Slow Food Youth Italy
Weiterführende Informationen
- G. Reckinger: Bittere Organgen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa
- T. Jones & A. Awokoya: Are your tinned tomatoes picked by slave labour?
- Open Society Foundation: Is Italian Agriculture “Pull Factor” for Irregular Migration - And, If So, Why?
- Ethical Trading Initiative: Counteracting exploitation of migrant workers in Italian tomato production,
- A. Hendriks: Tomaten. Recherchen auf dem globalisierten Nahrungsmittelmarkt
- Weitere Infos zum Lieferkettengesetz
- Mafia-Freie Lebensmittel: Legal & Lecker
- Pasta Grannies: How to make tomato passata
- *Für die Berechnung des Preises wurde Tomatenpassata gewählt, die auf dem Bauernhof Pietrasanta in Salento, Apulien, produziert wurde. Die von ihnen genutzte Tomatensorte “Fiaschetto di Torre Guaceto” ist ein Slow Food Presidium.